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»Ich fühle mich jetzt so, dass ich neu geboren bin!«

Nazir (*) erzählt Euch seine Geschichte

Nazir Ahmad
00:00 / 13:58

Interview: Nazir Ahmad, 22 Jahre alt, geflohen aus Afghanistan, kam über Gießen zuerst nach Kamen und später nach Unna – derzeit macht er eine Berufsausbildung.

Interview mit Michael Koch am 6. Oktober 2021; Texterfassung von Michael Koch (wesentliche Anpassungen von Grammatik; Wörterergänzungen und Worterläuterungen in Klammern)

 

Michael Koch: Nazir, Du kommst aus Afghanistan. Wie hast Du vor Deiner Flucht nach Europa dort gelebt?

Nazir Ahmad:

Ich bin Nazir. Ich bin 22 Jahre alt. Ich komme aus Afghanistan, einer kleinen Stadt. Paktiah, heißt das (die). Und früher, als ich 16 war, bin ich geflüchtet nach Deutschland. Zuvor habe ich ganz normal (die) Schule gemacht, sechste Klasse. Und dann durch die Situation, (wegen der) ich nicht weiter zur Schule gehen konnte, dann (bin) ich ein Jahr zur Moschee gegangen. Dort habe ich meine Schule weitergemacht (gemeint Moschee-Schule/Koran-Schule). Und dann von dort habe ich einen kleinen Kiosk gehabt, also auf Deutsch so gesagt – Kiosk: Ein kleines Geschäft. Da habe ich nur einfach Süßigkeiten, zum Beispiel oder Zigaretten verkauft. Mit 16 darf man (das) in Afghanistan oder mit zwölf, ist egal, kann man mit jede(m) Alter Zigaretten kaufen oder verkaufen (...).

Ich komme aus einer normale(n) Familie in Paktiah dort habe ich gelebt. Mit meiner Familie und hatte einfach (...) – also ganz normales Leben gehabt (...). Dort ist es mehr schwierig, kann man nicht so richtig Schule weiter machen oder zur Schule gehen, oder (...) frei leben. Konnte man nicht. Mit 16 war ich ja noch jung. Und dann hatte ich ein bisschen Probleme mit dieser Regierung. Die Taliban zum Beispiel wollte mich für sich selber nehmen, damit ich für die arbeite. Dann bin (ich) zur Regierung, zur Polizei gegangen, damit ich (denen) das erklären kann: »So ich werde verfolgt (...)«. Die haben gesagt: »Wir klären das.« Aber sie haben das nicht geklärt.

Mein Leben war halt dann in den letzten Jahren sehr schwierig. Dann habe ich mit meine(m) Vater darüber gesprochen. Weil dann bin ich eine andere Stadt geflohen. Also geflüchtet. Von dort konnte ich nicht wieder zurück nach Afghanistan –- also von meiner (gemeint: in meine) Stadt, wo ich gelebt habe. Und dann – von dort – habe nur meinen Vater zuletzt gesehen. Nicht mal meine Mutter (...). Mein Ziel war nicht, direkt nach Deutschland zu kommen, sondern nach Europa. Egal (welches) Land, Italien oder Schweden, es ist egal, Hauptsache nach Europa, ein sicheres Leben weiter zu führen. Und dann bin ich von Afghanistan geflüchtet (...).

 

Michael Koch: Wie lange hat Deine Flucht gedauert, wie es das abgelaufen? War das für Dich mit Ängsten verbunden (...)?

Nazir Ahmad:

Mit 16 Jahren ist man ein Kind, man weiß ja nie was morgen passiert oder in einer Stunde – ich hatte natürlich Angst ohne meine Eltern, ohne meine Brüder, ohne meine Schwester. Und keiner war mit mir aus meiner Familie oder meinen Verwandten, weil ich die einzige Person war. (So) hat mein Vater mit einem Schlepper gesprochen, dass ich einfach von dort weggehe, weil ich in Gefahr bin. Und dann haben sie so (darüber) gesprochen. Also der Schlepper war in (der) Türkei, und mit dem hat er gesprochen durch meinen Onkel. Der kannte den. Und dann von dieser Stadt (Razny heißt die) bin ich alleine geflohen. Für mich war (gab es) keine andere Wahl. Ich muss(te) dort bleiben bei meinem Onkel (...), ich konnte nicht zurück zu meiner Familie.

Bei meinem Onkel konnte ich auch nicht mehr lange bleiben, (...) Dort gibt es nicht so viel Arbeit, er konnte sich nicht über mich (um mich) kümmern. Deswegen hatte ich keine andere Wahl. Dann bin ich einfach aus Afghanistan raus. (...) Es hat zwei Monate gedauert bis ich in Deutschland war. Und von Afghanistan nach Iran (...) zu Fuß oder mit Autos wie andere Flüchtlinge. (...) manche kommen aus Pakistan – aber ich bin direkt nach Iran durch die Grenze. Dann war ich eine Woche im Iran – in Teheran, der Hauptstadt von Iran. Und von dort sind wir (wurden wir) zur Grenze gebracht mit (einem) Auto. Wir waren zwei Tage dort, an der Grenze von der Türkei nach Iran. Von Iran nach (der) Türkei - (dann) war ich eine Woche in (der) Türkei – oder zwei Wochen? Von (der) Türkei dann nach Bulgarien. Erstmal (...) hat uns die Polizei von Bulgarien festgehalten und hat uns wieder zurück nach (der) Türkei geschickt. Aber dann (der) nächste Versuch nach einer Woche dann von der Türkei nach Bulgarien, Serbien, wie der Balkon so heißt, von Serbien (nach) Ungarn, von Ungarn (dann) Österreich (und) nach Deutschland. Das hat mindestens zwei Monate gedauert.

Dann kam ich in München (nach) Deutschland. Das war die Geschichte von unterwegs - also ich war auch in Griechenland. Das war an der Grenze von (der) Türkei – Bulgarien (...) durch die Grenze von Griechenland – aber dann hat die Polizei uns festgehalten. Und dann von da, die haben uns wieder zurück nach Griechenland geschickt. Und (in) Griechenland war ich auch drei Tage (...) im Knast. Und von dort dann zurück nach (der) Türkei mit (einem) Boot. Die haben uns rübergebracht. Dann (der) nächste Versuch war dann direkt nach Bulgarien durch den Balkan, Serbien, Ungarn, Österreich und Deutschland. In Deutschland dann München. Von dort dann (…). Wir wussten dann nicht wo lang, wo hin, und dann war ich bei der Polizei. Die haben uns nach Frankfurt geschickt, (zum) Hauptbahnhof von Frankfurt, dort (sind wir) mit dem Bus nach Gießen gefahren. Und da habe ich dann Asyl beantragt, mich vorgestellt, Interview halt, dieses kleine Interview, dieses erste Interview habe ich gegeben: »Ich bin 16 Jahre alt. Ich komme aus Afghanistan...« – und dann wurde das alles durchgeführt. Dann von dort (bin) ich in ein Kinderheim geschickt (worden), da wo andere Flüchtlinge von (aus) Syrien, aus Afghanistan waren. Das war Dezember 2015. (Da) bin ich angekommen, 26. Dezember 2015. Da war ich zwei Wochen, (da) hatten wir Weihnachten und Silvester: Dann direkt nach Kamen zu KJHK (ein Jugendhilfeträger im Kreis Unna) ich war ein paar Monate dort, sechs Monate. Und dann nach Unna umgezogen, alleine (...).

 

Michael Koch: (...) Du hast eine Weile in Kamen gelebt, bist nun in Unna unterwegs, Du hast die Schule besucht – erfolgreich –, Du machst eine Ausbildung: Wie war das in der Zeit in Deutschland, welche Erfahrungen hast Du mit den Menschen gemacht, mit dem Leben in diesem Land und in dieser Stadt?

 

Nazir Ahmad: Ja, (...) das hört man ja: Ich bin seit sechs Jahren jetzt in Deutschland, 2016, also April 2016, (...) bin ich in (die) Realschule in Kamen eingetreten. Dort – so (in die) achte Klasse – war (das). (...) ich habe zweieinhalb Jahre die Schule besucht in Kamen, (die) Fridtjof-Nansen-Realschule in Kamen. Dann habe ich meine(n) Realschulabschluss dort gemacht. Und danach wusste ich halt nicht, was ich machen soll, dann habe ich eine Ausbildung angefangen als Hotelkaufmann und dann hat das nicht geklappt – (das) war auch nicht mein Ding (...), habe mich doch umentschieden für »Kaufmann für Büromanagement«. Ich mache ja gerade eine Ausbildung als Kaufmann für Büromanagement in Dortmund.

Und (...) ich fühle mich so normal, so wie andere Mitbürger in Deutschland. Ich (habe) mich jetzt halt integriert, ich habe die Sprache gelernt, ich habe die Schule besucht. Und (...) das ist ja ein riesiger Unterschied von Afghanistan und Deutschland. ich fühl mich jetzt so (...), dass ich jetzt neu geboren bin oder einfach in einer anderen Welt. So bin ich angekommen. Und jetzt weiß ich ja, was Islam ist, was Christ ist, was Jude ist oder was Buddhist ist (...), jetzt habe ich die Entscheidung getroffen – was, was ist. Mich interessiert (nur), so ein Mensch zu sein, einfach sein Leben so führen, jeden akzeptieren, so wie er ist. Und so habe ich (mir) mein Leben so vorgestellt, dass ich mein Leben noch verbessern kann, meine Sprache noch verbessern kann, später eine Familie gründen, einfach so, wie die Leute, die hier geboren sind. (...) Jetzt habe ich auch Freunde aus (dem) Ausland, zum Beispiel Türken, Albaner, verschiedene, die hier so geboren sind. Ich fühle mich auch so, dass ich (…) hier geboren bin, ich fühle mich so wie ein Deutscher oder wie einer, der hier geboren ist. Ich habe die Schule besucht, so wie andere Kinder. Ich habe die Leute kennengelernt, ich habe die Kultur hier kennen gelernt, wie man (mit) ihnen umgeht – nicht so wie in Afghanistan: »Der hat mehr Geld, der hat mehr zu sagen (...)«. Ich muss (...) so klarkommen. Aber hier interessiert das keinen Menschen, wer Du bist, was für eine Religion du hast und was (für) einen Hintergrund du hast.

Okay: (...) jeder akzeptiert so jeden, wie er ist; jeder akzeptiert so, wie er ist: Nicht so wie in Afghanistan wo sie sagen: »Du bist Pashto, du bist Hazara, du bist Tadschike, du bist Usbeke...« (Nazir spricht hier die wesentlichen afghanischen Volksgruppen an) – oder was weiß ich. Hier leben alle einfach so ganz normal, anders als in Afghanistan. Da kannst du nicht zur Schule gehen. Oder, gehst du zur Schule, nicht wie so wie hier (meint: der Schulbesuch ist unregelmäßig und nicht vergleichbar mit den deutschen Schulen) – das weiß die ganze Welt. Hier ist (eine) ganz andere Welt als in Afghanistan. Die sind noch 30 Jahre (...) zurückgeblieben. (...) Ich habe so alles gesehen, was wirklich in dieser Welt passiert oder was so alles abgeht. Ich fühle mich sehr wohl. Ich bin sehr froh, dass ich rübergekommen bin. Und wenn ich mein Leben so weitermache, wie ich das möchte, das macht mich sehr glücklich. Und ich bin wirklich sehr froh, dass ich so ein Land wie in Deutschland... Es gibt ja verschiedenen (schöne) Regionen in Frankreich oder (in) ander(en Ländern), das interessiert mich überhaupt nicht. Ich bin hier in (nach) Deutschland gekommen, ich bin hier zur Schule gegangen, ich habe alles hier, ich habe mich hier integriert. Also, was will ich denn noch mehr? Ich habe (ein) besseres Leben als dort. Das ist natürlich, ich habe hier (eine) eigene Wohnung, ich habe meinen Beruf, ich habe meine Schule. So, mehr brauche ich gar nicht!

 

Vielen Dank, Nazir!

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